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25.03.2022 Leipziger Tierärztekongress

Rinderpraxis der Zukunft: Zwischen Passion und Überreglementierung?

Tierärzte betreuen in Deutschland laut dem Bundesamt für Statistik insgesamt elf Millionen Rinder – davon laut Statista knapp vier Millionen Milchkühe. Um die Zukunft einer Rinderpraxis muss sich die Berufsgruppe keine Sorgen machen? Oder doch?

Aus Sicht von Martin Gehring von der Tierarztpraxis Martin Gehring in Bad Arolsen hat das gesellschaftliche Vertrauen in die tierärztliche Tätigkeit in den letzten Jahrzehnten aus vielerlei Gründen abgenommen. Einer davon war die öffentliche Diskussion über den Einsatz von Antibiotika in der Nutztierhaltung.

In der Folge stieg die Anzahl der rechtlichen Reglementierungen. Hierzu gehören etwa die 2018 neu in Kraft getretene Verordnung über tierärztliche Hausapotheken (TÄHAV) oder die Streichung der Rechtsnormen für Tierarzneimittel aus dem Arzneimittelgesetz seit dem 28. Januar 2022. Rechtsverbindlich ist nunmehr die komplexe EU-Verordnung 2019/6 vom Dezember 2018.

„Tierärzte mit einer Rinderpraxis müssen einen Spagat zwischen ihrer Leidenschaft und der Überreglementierung hinlegen“, erklärt der Veterinärmediziner, der am 9. Juli einen Vortrag unter der Überschrift „Rinderpraxis der Zukunft – Spagat zwischen Passion und Überreglementierung“ auf dem Leipziger Tierärztekongress hält.

Paradigmenwechsel: Von der Heilung Einzelner zur Gesundhaltung der Herde

Zudem habe sich der Schwerpunkt der Arbeit von Tiermedizinern mit Spezialisierung auf Rinder verändert: „Unsere Aufgabe besteht nicht mehr nur aus der reinen Heilung erkrankter Tiere, sondern zunehmend aus der Erhaltung der Gesundheit der Herde“, erläutert Martin Gehring.

Gleichzeitig stünden die Bauern unter immer größeren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Druck, so der Tierarzt. Diesem Arbeitsumfeld müssten sich die Tierärzte anpassen und ihr Leistungsspektrum entsprechend erweitern. „Neben der Diagnostik und Therapie beim Einzeltier werden zunehmend Tätigkeiten verlangt, die eine Gesunderhaltung des Tierbestandes zum Ziel haben“, betont Martin Gehring.

Umfassender Service

Zum Service einer zukunftsfähigen Rinderpraxis gehöre aus seiner Sicht die regelmäßige und systematische Erhebung von Daten bezüglich Erkrankungshäufigkeiten, systematische Erfassung von Risikofaktoren für Erkrankungen mit anschließender Erstellung von Maßnahmenplänen für die Gesunderhaltung der Herden. Fester Bestandteil müsse zudem eine anschließende Erfolgskontrolle der getroffenen Maßnahmen sein. Die Auswertung von Leistungsdaten sowie die Beurteilung wirtschaftlicher Daten des Betriebes runde den Service ab. Hierzu müsste die Fütterung, die Haltung, das Management, die Biosicherheit und auch die Genetik in die Untersuchungen mit einbezogen werden. Therapiepläne für bereits erkrankte Tiere oder für Tiere, die wahrscheinlich noch erkranken werden, seien ebenfalls fester Bestandteil eines solchen Services.

Tierwohl im Blick

„Neben der Absicherung des wirtschaftlichen Erfolges des landwirtschaftlichen Betriebes müssen Tierärzte auch eine Verbesserung von Tierwohl (Tierschutz), eine Verminderung der Umweltbelastung durch die Landwirtschaft sowie eine Reduktion des Einsatzes von Arzneimitteln, speziell Antibiotika im Blick haben“, sagt Martin Gehring. „Alle Untersuchungen und Maßnahmen müssen stets auf evidenzbasierten Erkenntnissen beruhen.“

Selbstverständlich spiele auch der wirtschaftliche Erfolg der Tierpraxis eine Rolle. Um insbesondere angehenden Tierärzten eine gute Perspektive zu bieten, müsse daher ein Arbeitsumfeld mit ausreichend Freizeit und Chancen zur Teilnahme am sozialen Leben ermöglicht werden.

Rechtsunsicherheit durch Interpretationsspielräume

Für Unsicherheit, vor allem bei jüngeren Tierärzten, sorge zudem die teils unterschiedlichen Interpretationen der Rechtsverordnungen vonseiten der Überwachungsbehörden. „Was in einem Kreis noch als Abgabe von Antibiotika für die Behandlung von Tieren, die voraussichtlich noch erkranken werden interpretiert wird, gilt woanders als illegale Abgabe von Antibiotika ohne vorherige klinische Untersuchung“, erklärt Martin Gehring.

Gemeinsam für mehr Vertrauen und weniger Bürokratie

Der Tierarzt wünscht sich eine gemeinsame Erarbeitung von Lösungsansätzen von Behördenvertretern und praktizierenden Tierärzten, denn beide hätten teils die gleichen Aufgaben. Wie gemeinsame Lösungen aussehen könnten, stellt Martin Gehring im Rahmen des Symposiums „ Zukunft der tierärztlichen Tätigkeit im Milchviehbestand “ am 9. Juli 2022 um 8:30 bis 10:10 Uhr in seinem Vortrag auf dem Leipziger Tierärztekongress den Kollegen vor. Auf jeden Fall müsse es das Ziel der Tierärzteschaft in Deutschland sein, das Vertrauen der Gesellschaft und der Überwachungsbehörden zurückzugewinnen und die Bürokratie zu verschlanken, um die Zukunft der Rinderhalter und der Rinderpraxen zu sichern, ist sich der Tierarzt sicher.

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